Klaus Kropfinger

Luigi Nono: Wege - nicht Werke
 
Wenn ich in das Studio in Freiburg komme, fragt man oft: "Hast Du schon ein Prinzip? Hast du eine Idee?" Ich sage: "Nein, ich weiß nicht, was herauskommt. Bei Gesprächen mit Luigi Nono während seiner letzten Jahre in Berlin, überraschte die Unnachgiebigkeit, mit der er den Weg, den er mit einer Komposition beschritt und damit von Komposition zu Komposition ging, über diese selbst stellte. Der Kompositionsprozeß, die Suche sei wichtiger als das mögliche Resultat, er komponiere "keine Werke".
 
Massimo Mila hat Nonos Oeuvre in vier Perioden eingeteilt: Die erste umfaßt "die Instrumentalwerke der fünfziger Jahre, von Variazioni canoniche sulla serie dell'op. 41 die Arnold Schönberg (1950) bis zu Incontri für 24 Instrumente und Canti per tredici (beide 1955), rein instrumentale Werke der Lehrjahre; die zweite Periode setzt mit Il canto sospeso (1956) ein und endet mit Al gran sole carico d'amore (1972-74). Es ist die Zeit der "Linea Nono", in der die aus der gesellschaftlichen Aktualität gespeiste kritsche Idee vor dem Handwerklich-Technischen rangiert, allerdings nur bis zu der Zeit, da die Arbeit im Studio di fonologia der RAI in Mailand einsetzt (seit 1954), die das Technologisch-Kompositorische Moment wieder nach vorn bringt; die dritte wird durch... sofferte onde serene... (1974-76) eröffnet und mit "Prometeo" (1984-85) abgeschlossen. Sie führt zu der durch das Streichquartett Fragmente - Stille, An Diotima markierten und vieldiskutierten "Wende: "eine strikt musikalische und technische und eine geistigen Inhalts". Die folgenden Kompositionen - Risonanze erranti (1986), Caminantes - Ayacucho (1986-87), die Post - Praeludien, La lontananza nostalgica-futura (1988), in denen die Vertiefung in den Klang weitergetrieben wird, gehören der abschließenden vierten Periode an.
 
Diese Zeitgliederung birgt indes Probleme. Hat die Konsequenz aus der Arbeit im Mailänder Studio di fonologia der RAI nicht Eigengewicht genug, um als - etwa von Omaggio a Emilio Vedova bis Al gran sole carico d'amore reichende - Phase eigenen Rechts verstanden zu werden? Wäre dann aber eine einheitliche "Linie" bis etwa Sarà dolce tacere und Ha venido (beide 1960) anzunehmen? Bedeutet schließlich das Streichquartett Fragmente - Stille, An Diotima wirklich die Wende in Nonos Schaffen? Schon diese Fragen zeigen die Schwierigkeit, Nonos Oeuvre wirklich schlüssig in Zeitphasen zu gliedern.
 
Hinter dieser Schwierigkeit stehen tief in den geistig-künstlerischen Habitus Nonos und seine weltanschauliche Orientierung reichende Fragestellungen. Nonos politisches und sein künstlerisch-kompositorisches Engagement erscheinen als zwei Pole eines Spannungsfeldes, und je nachdem ob der eine oder der andere Teil der leitende ist (oder zu sein scheint), stellt er sich mehr als politisch oder als künstlerisch bestimmter Komponist dar. Diese Skizze vereinfacht jedoch die Konstellation in einem entscheidenden Punkt. Nonos politisches Engagement ist nicht allein vom Pathos des revolutionären Aufbegehrens bestimmt, es hat vielmehr sein ergänzendes Gegenstück in Symbolen der Befreiung und des Glücks. Es zerfällt also seinerseits, und zwar in ein nach außen und ein nach innen gewendetes Moment, in die Komponente des Vehement-Angreifenden und des Zart-Empfindsamen. Und so untrennbar revolutionäre Aktion und Befreiung als unmittelbar ersehntes Ziel zusammengehören, so klar sollte andererseits sein, daß jeder der beiden Aspekte auch eine unterschiedliche Dimension von Zeit repräsentiert. Ist die aktuelle revolutionäre Aktion der Jetztzeit verhaftet, so steht Befreiung bei Nono zu sehr im Kontext des Vorstellungsbereichs von Utopie (Jugend, Liebe, Meer - weite, unendlich ausschwingende Natur), als daß hier nicht zugleich die Assoziation von räumlicher, vor allem aber zeitlicher Ferne mitspielen würde. Dieser Aspekt utopischer Ferner tritt in den Werken, die die "Wende" repräsentieren, also das Streichquartett und "Prometeo", hervor. Das bedeutet indes keinesfalls die Aufgabe der revolutionären Perspektive überhaupt. Das Benjamin-Zitat von der "schwachen messianischen Kraft" bezeugt es ebenso wie die Chöre im Interludium 1 - 3 Stimmen b des Prometeo. Aber die Erwartungsakzente sind verschoben. An die Stelle der "Naherwartung" menschlichen Enthobenseins und Glücks tritt - ganz im Sinne der "schwachen messianischen Kraft" - die "Fernerwartung". Von hier aus gesehen erweist sich das Wort von der "Wende" als allzu pauschal, am Eigentlichen der Erwartungsperspektive Nonos vorbeizielend. Dies umso mehr als ja schließlich beide Aspekte - radikales Aufbegehren und beglückende menschliche Entfesselung Teilmomente eines Ganzen sind: Des unbedingten Willens zur Menschlichkeit.
 
Es ist aufgrund dieser Konstellation eines in sich beweglichen Komplexes von Teilmomenten, die sich zudem auch, je nach Perspektive des Betrachters, unterschiedlich darstellen, problematisch, Aussagen über Kompositionen zu machen, von denen wiederum eine Einteilung in Perioden abgeleitet wird. So scheint es fraglich, ob Il canto sospeso wirklich als Ausgangspunkt einer kompositorischen Phase gelten kann, in der "die poetische Idee vor dem formalen Handwerk Vorrang haben soll". Spricht nicht der kompositorische Standard dieses Werkes für sich? Und steht hinter Nonos Einspruch gegen die einseitig technologische Analyse nicht auch das Bewußtsein des Einstands von kompositorischem Standard und musikalischer Kundgabe? Ging es Nono nicht beim "Prinzip der Textzerlegung" darum, "den Text als phonetisch-semantisches Gebilde zum musikalischen Ausdruck zu machen"?
 
Luigi Nonos kompositorisches Schaffen entzieht sich der strikten Unterteilung und Einordnung, so wie er im Kompositionsprozeß selbst die apriorischen Festlegung zunehmend verweigerte. Die totale Serialisierung ebenso ablehnend wie den Ausweg der Aleatorik hat er sich immer seinen Weg, dem "Prinzip Freiheit" folgend, offengehalten. Selbst das Etikett des aufs politische Engagement fixierten Künstlers, auf das man ihn festlegen zu können glaubte, erwies sich schließlich als Label halber Wahrheit - sehr zum Mißfallen vieler Kritiker, sehr zur Irritation derer, die ihm auf eben dieser Linie gefolgt waren.
 
Daraus auf Konzeptionslosigkeit schließen zu wollen, wäre wiederum völlig verfehlt. Nonos Weg war der des ständigen Unterwegs-Sein, war die unablässige Suche nach neuen Möglichkeiten und neuen Horizonten. Auf diesem Weg leitete ihn wache Offenheit. Er war besessen von der permanenten Frage nach neuen Elementen und Qualitäten des musikalischen Materials, von dessen unermüdlicher und selbstkritischer Erforschung. Ihn faszinierte die "Erweiterung des Materialstandes" ebenso wie die kritische Reaktion auf diese Welt, ihre Ungereimtheiten und Paradoxien. Das aber bedeutet, daß er sich stets die äußerste Wachheit und Anstrengung abverlangte, um seine Kundgabe als Komponist aus der jeweiligen Erscheinungsform des Materials hervorzutreiben.
 
Ist Nonos Bewußtsein des "Unterwegs" von Anfang an und zu allen Zeiten seines Weges als Komponist gleichermaßen ausgeprägt gewesen? Zehelein geht davon aus, daß sich Nonos Denken erst nach der Uraufführung von Al gran sole (1975) deutlich zum "Unterwegs" hin verlagert habe: Teilnahme am Prozeß ist mir heute wichtiger als die Konstatierung der Konsequenzen".
 
Es scheint indes, daß diese Aussage vor allem eine Verlagerung der Gewichtung meint. Nono war sich zweifellos der Notwendigkeit des unablässigen Voranschreitens von Anfang an sicher. Aber das Gewicht und der Angriffspunkt veränderten sich. Ein Zeichen hierfür ist seine Stellung zum kompositorischen Experiment.
 
Im Jahre 1961 hatte Nono auf die Frage, ob er "eine strenge Arbeitsdisziplin" habe, geantwortet, er ziehe es vor, in der größtmöglichen Freiheit zu arbeiten. Aber er arbeite nach festem Plan: Unsere Zeit läßt dem Zufall zuviel Raum. Wir sind im Jahrhundert des "vielleicht" (possibilismes). Der Musiker schreibt eine Partitur so, daß der Interpret festlegen und der Hörer auswählen soll. Man spricht zuviel von "Improvisation", Davor muß man sich hüten. Ich unterscheide mich von einigen Musikern der "Nouvelle vague". Sicherlich müssen wir alles ausprobieren, aber das Experiment muß unseren Ausdruck erweitern und ihn nicht töten, erstarren lassen oder ihn konfus und unbestimmt machen. Unsere Aufgabe ist es nicht, Experimente um der Experimente willen zu betreiben.....
 
Nono lehnte also zwei Jahre nach dem Darmstädter Vortrag, in dem er sich gegen strikte serielle wie auch gegen aleatorische Kompositionsverfahren abgrenzte, das Experiment nicht etwa grundlegend ab. Was er kritisierte, war die völlige Absorption des Komponierens durchs Experiment. Der von Nono angesprochene, die Arbeitsweise leitende Plan schloß das Experiment auch weiterhin ein, wie ein Interview aus dem Jahre 1969 bezeugt: Ich arbeitete immer sozusagen in drei Stufen. Zuerst wählte ich das Material, das intervallische, das klangliche das rhythmische. Dann experimentierte ich mit diesem Material, unterzog es vielleicht auch verschiedenen prädeterminierenden Prozessen, aber nur um zu sehen, in welcher Richtung es sich entwickeln könnte. Und dann komponierte ich, leitete also aus dem Material und dem ihm einbeschriebenen Möglichkeiten eine ihm gemäße Form ab. Dabei war das Komponieren nie bloß die Konkretisierung von vorgeformten Strukturen. Stets spielten improvisatorische Momente mit; ich hielt mir die Entscheidungen bis zum letzten Augenblick offen.
 
Dieses Interview aus einer Zeit, da Nono bereits im Metier der elektronischen Musik im weitesten Sinne zu Hause war, bestätigt nicht nur die Bedeutung des Experiments, es läßt auch erkennen, daß der Materialbereich und damit das Experiment im Kompositionsprozeß an Bedeutung gewonnen hatte. Das wird durch ein Gespräch des Jahres 1966 unterstrichen:
 
In der langen Periode des Experimentierens und Forschens, die der Komposition von A floresta è jovem e cheja de vida im Studio di Fonologia der RAI in Mailand voranging, konnte ich einige technische Ausarbeitungs- und Kompositionsverfahren über die Emission von Phonemen und Worten dank einiger Schauspieler studieren: spezielle Verwendungsmöglichkeiten des Mikrophons bei der Aufnahme, die simultane Verwendung der Stimme mit einem Bandpaßfilter , die sukzessive Ausarbeitung mit einem Ringmodulator, einer Transponiermaschine, einem Oszillographen mit Rechteckschwingungen und anderen... Ich wollte - von live Phonemen, Worten und Gesängen ausgehend - Transformationsmöglichkeiten kennen lernen... D.h. eine große Reihe von technischen expressiven Möglichkeiten des Klangmaterials studieren, das auf einem einzigen und identischen Material beruht, um mir die sehr zahlreichen Abstufungen sowohl in der gesprochenen Sprache wie im Gesang bewußt zu machen... Dies ist für mich ein neues Feld: ich bin versucht, mein nächstes Werk ganz allein auf die menschliche Stimme zu gründen.
 
Deuten diese Bemerkungen darauf hin, in welchem Maße der Anteil des experimentellen Materialstudiums durch die Arbeit im Mailänder Studio di fonologia zunahm, so wird zugleich deutlich, daß sich der Begriff des Experiments für Nono mehr und mehr mit der Erforschung der Klänge und ihres Anwendungspotentials verband. Das führte zu einer immer stärkeren Durchdringung von Komponieren und Klangerforschung.
 
Es versteht sich, daß die durch die Zusammenarbeit mit dem Freiburger Experimentalstudio der Heinrich-Strobel-Stiftung seit 1979 sich eröffnenden Möglichkeiten der Live-Elektronik nicht nur das Gewicht der Klangerforschung vergrößerten. Sie führten auch zu einer intensivierten Verschränkungung von Kompositionsprozeß und Komposition, die - wie Nono in dem folgenden Pasus unterstreicht - bis in die Aufführung hinein ausstrahlt:
 
Man kann bei der Live-Elektronik während der Aufführung die Klangtransformation verändern. Bei der Verwendung eines Tonbandes hingegen ist ein für allemal eine Veränderung unmöglich. Man kann nur die Lautstärke und Richtung des Klanges im Raum verändern Mit der Live-Elektronik gibt es viele Möglichkeiten, das ist ein dauerndes Suchen. Nicht nur während des Kompositionsprozesses, sondern auch danach. Verschiedene Aufführungen sind nämlich ganz unterschiedlich. Diese Verschiedenartigkeit verdankt sich zum Teil neuen Kompositiosnideen, zum Teil aber auch neuen Notwendigkeiten, etwa bei einer anderen Akustik.
 
So sehr Nonos Äußerungen aus verschiedener Zeit auch bezeugen, daß er immer ein Suchender war, bestrebt, den Bereich des musikalischen Materials kontextbezogen, als kritische Kundgabe und Stellungnahme zu erweitern und die kompositorischen Verfahren weiterzuentwickeln, so wichtig ist, daß er sich hierbei des musik- und kompositionsgeschichtlichen Hintergrundes ebenso wie eines breiten ideen- und kulturgeschichtlichen Kontextes bewußt war. Hierfür waren seine Studien bei Malipiero, mit Maderna und Scherchen von großer Bedeutung, hierbei hat aber auch das Vorbild Arnold Schönbergs entscheidend mitgewirkt.
 
Nonos Verbindung zur Tradition und speziell zu Arnold Schönbergs Schaffen ist für unsere Vorstellung von seinem kompositorischen Bewußtsein von großer Bedeutung. Sein op. 1, die Variazione canoniche, basieren auf der Reihe von Schönbergs Ode an Napoleon, op. 41. Wenn Schönbergs historisches Bewußtsein, herausgefordert durch die Schande und Greuel des Antisemitismus und der Nazidiktatur sich öffentlich engagierte, so erwuchs dieses Engagement für Nono aus der Lebenswelt seiner Jugend, der resistenza, als gezielte, kritische menschliche Kundgabe. Nonos erste Stücke sind Instrumentalkompositionen, aber schon bald bezog er die menschliche Stimme in sein Schaffen ein, für ihn "das reichste Instrument, das es gibt".
 
Höchst charakteristisch ist, wie er - nach ersten Ansätzen im Epitaph auf Federico García Lorca:
 
I. España en el corazón (1952), La victoire de Guernica und Liebeslied (beide 1954) - in Il Canto sospeso (1955-56) die Singstimme bearbeitet. "Bearbeitet" ist hier in der Tat der angemessene Ausdruck. Während er die Tonfolgen und Intervallkonstellationen, Klänge und dynamischen Werte nicht seriell-mechanistisch ordnet als vielmehr expressiv auflädt und damit eine besondere Adhäsion zum Text gewinnt, intensiviert und "verflüssigt" Nono diesen durch eine Verbindung von Silbenzerlegung, phonetischer Vokalakzentuierung und Schichtung.. Die Verbindung von Technologie und Kundgabe ist so eng, daß es ebenso schwer fällt, hier von einem Vorrang der Idee wie von einem der Technik zu sprechen.
 
Bei der Gewichtung und Behandlung der Singstimme orientierte sich Nono schon früh an Arnold Schönbergs Reflexionen und Kompositionen. Das bestätigen die unter dem Titel "Text-Musik-Gesang" niedergelegten Ausführungen.
 
Nonos Betrachtungen gehen von Schönbergs Aufsatz "Das Verhältnis zum Text" aus, und sie beziehen sowohl musikwissenschaftliche Untersuchungen als auch bestimmte Beispiele aus der Geschichte der musikalischen Komposition ein, die für Nono immer Geschichte des musikalischen Denkens ist. Es ist ein Weg von der Analogie formaler Rhetorik zur musikalischen Vermittlung "irdischer Gefühle und Leidenschaften", ein Weg, der nicht zuletzt durch den Schlußsatz von Beethovens 9. Sinfonie signifikant ist:
 
Die kompositorische Auffassung des vierten Satzes der 9. Sinfonie läßt klar erkennen, wie wichtig für Beethoven die Verständlichkeit der Worte von Schillers Ode war, nicht nur in ihrem literarischen Wert und gerade um ihrer tiefen menschlichen Bedeutung willen. Sie ist ein hervorragendes Beispiel dafür, wie ein Text durch seine besondere Brillanz der menschlichen Werte dazu beitragen kann, im Musiker anstelle eines einfachen handwerklichen Prozesses den Durchbruch einer neuen Ausdrucksweise hervorzurufen und zu beschleunigen.
 
Ein weiterer Schritt auf diesem Weg der Behandlung der menschlichen Stimme "als ein Ausdrucksmittel größter Bedeutung" ist Arnold Schönbergs Sprechgesang. Es ist hier, wo mit Moses und Aron auch der Raum als zentrales Moment ins Spiel kommt:
 
In der Oper 'Moses und Aron' kontrapunktieren Sprechgesang und der Gesang und tragen so dazu bei, nicht nur die Verschiedenheit der beiden Hauptpersonen, sondern auch ihre komplementäre Funktion zu charakterisieren. In der ersten Szene der Oper kontrapunktiert der aus sechs Solostimmen bestehende Chor nach dem gleichen literarischen Text mit dem sprechenden Chor als 'Stimme aus dem Dornbusch'. Die verschiedene kompositorische Auffassung und die verschiedene Funktion und räumliche Anordnung der beiden Chöre, des singenden im Orchester stehend und des sprechenden hinter der Szene, klanglich voneinander isoliert, durch Lautsprecher nach vorn gebracht, so daß sie sich erst im Saal vereinen, erhöhen das expressive Vermögen des Textes, indem sie die klangfarbliche Wirkung in der zweifachen Projektion des Gesungenen und Gesprochenen erweitern. Daraus folgt auch die Möglichkeit, den Text besser zu verstehen. Besonders hervorzuheben ist hierbei die Erneuerung in der Technik und der Funktion des doppelten Chores: kein Spiel mit dem klanglichen Raum, sondern expressive Fülle eines Textes, die nun im Raum durch eine zweifache und verschiedenartige klangliche Projektion erreicht wird.
 
Es ist bemerkenswert, daß in diesem Text aus dem Jahre 1960 Textbehandlung und Raumaspekt miteinander verbunden werden. Den weit zurückreichenden historischen Hintergrund sieht Nono in der den musikalischen Raum aktivierenden Venezianischen Mehrchörigkeit, die mit Schönbergs Verfahren überboten wird: der musikalische Raum wird zum expressiven Faktor des Komponierens, zum musikalischen Ausdrucksträger, den es neu zu entdecken, den es von Komposition zu Komposition, von Aufführung zu Aufführung neu zu strukturieren gilt. In Nonos Raumdenken verbinden sich Gegenwart und Vergangenheit, namentlich durch das Studium alter Quellen, der Schriften Athanasius' Kirchers. Kirchers Phonurgia wie auch die Musurgia gaben ihm die Möglichkeit, die Beziehung von Raumklang, Raumveränderung und Klangveränderung, samt ihrer philosophischen Konnotation, zu studieren.
 
Diese "Tiefenlinie", die für Nonos Perspektive als Komponist schon früh relevant wurde und sein Suchen, seine kompositorischen Experimente und Forschungen bis zuletzt bestimmte, ist eng verbunden mit dem Prinzip der phonetischen Zerlegung des zu "vertonenden" Textes. Rückblickend ist es als ein Ansatz für die zunehmend definitiv in den Raum auszugreifende Kompositionsweise Nonos zu verstehen. Einmal ist es die außerordentliche Spannweite zwischen hohen und tiefen Stimmlagen, die geradezu ins Räumliche treibt, dann aber vor allem die Distanz zwischen (partiell) verständlichem und musikalisch absorbiertem, also unverständlichem Text. Gerade dieser zweite Aspekt, die konzeptionelle Opposition von "verständlich" : "nicht verständlich" war für eine räumliche Verteilung offen. Das wohl beeindruckendste Beispiel für die künstlerische Verwirklichung dieser Möglichkeit bietet "Prometeo".
 
Damit diese Perspektive weiter verfolgt werden konnte, bedurfte es freilich der bereits angesprochenen Erfahrungen des Studio di fonologia der RAI in Mailand, der Arbeit mit unterschiedlichen Hall-Längen, Ein- und Ausschwingvorgängen etc.
 
Nonos erstes künstlerisches Zeugnis dieser Arbeit im Studio di fonologia der RAI ist die Komposition Omaggio a Emilio Vedova (1960). Es ist wohl Nonos einzige elektronische Komposition, die im Stile einer Realisationspartitur entworfen und realisiert wurde; kam er doch "mit einer detailliert ausgearbeiteten Partitur - sämtliche Produktionsangaben wie Frequenzen, Dauern etc. waren genau notiert - ins Studio, ähnlich wie Stockhausen zur Zeit seiner Studien I und II." Sie dauert etwa 4'43", ist vierteilig und wichtig wegen des Titels, der auf die bis ins Jahr 1942 zurückreichende enge Freundschaft zwischen Emilio Vedova, dem ungebärdig abstrakten, engagierten Venezianischen Maler und Luigi Nono verweist. Es scheint als habe der Komponist namentlich mit dem ersten und vierten Teil die vehemente Linienführung und Schichtdurchdringung klanglich-strukturell einfangen wollen, die Vedovas faszinierende Malerei - stilistisch-großflächig erfaßt - bestimmt. Zum anderen wird an dieser Komposition, die Nono später nicht mehr akzeptieren wollte, gleichwohl bereits ein ausgesprochenes Gespür für räumliche Klangwirkung und den Raum durchmessende und -kreuzende Klangbewegungen deutlich. Und es ist bemerkenswert, daß sich hier auch bereits die durch Verhallung unterstrichene, nachdrücklich gestreckte Distanz zwischen hohen und tiefen Klanglagen als ausgesprochen raumhaltig erweist, ein Moment, das mit der vorausweisend ausgreifenden Tonhöhenspreizung in "Il canto sospeso" korrespondiert.
 
Es war der folgenden Arbeit im Mailänder Studio di fonologia und den daraus resultierenden Kompositionen wie Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, A floresta é jovem e cheja de vida, Contrappunto dialettico alla mente, Musica manifesto n. 1 und Y entonces comprendió vorbehalten, Nonos "elektronischen Stil", an dem auch seine Oper Intolleranza bereits teilhatte, zu entwickeln. Dabei ist der Anteil der Live-Klänge unterschiedlich. Dies gilt vor allem wenn man zwei Hauptwerke der Sechzigerjahre - La fabbrica illuminata (1964) und A floresta é jovem e cheja de vida (1966) - nebeneinanderstellt. Er ist in A floresta besonders groß, in La fabbrica illuminata dagegen setzt Nono Umweltklänge erstmals als verarbeitetes musikalisches Material - und nicht als Hintergrundsklänge - ein. La fabbrica illuminata (1964) ist eine Komposition, die das Geräuschinferno und die allein daraus resultierenden extremen Arbeitsbedingungen, die bestimmten Produktionsstätten auch heute noch eigen sind, mit Hilfe von überformten Klang und Textmaterial plastisch gestaltet und - gerade auch für die Arbeiter selbst - erkennbar machen soll.
 
Nono arbeitet hier mit Klangmaterial der Fabrik selbst, mit Arbeitsgeräuschen und der menschlichen Stimme als Ausdrucksträger. Doch dieses Material ist nur Rohstoff, ist nur Ausgangsmaterial eines intensiven und langwierigen Überformungsprozesses. Es entsteht ein Klang, der Worte, Wort- und Artikulationsfetzen sowie Geräusche noch ins Grelle hinein steigert. So etwa an der Stelle (1'53" - 2'30"), wo nach dem Ausruf "esposizione operaia" - "Die Arbeiter sind den Arbeitsbedingungen ausgesetzt" - die wie Fetzen umherschwirrenden Menschenstimmen von metallischen Klangzahngittern gleichsam zersägt werden.
 
Die Komposition bleibt freilich nicht auf den direkten Bereich der Arbeitswelt und ihrer Bedingungen beschränkt. Sie schließt auch die Ausstrahlung solcher Arbeitsbedingungen auf die persönliche Lebenswelt und damit die Lebensqualität überhaupt ein. Die Spannungen der Arbeitswelt durchsetzen und stören die individuelle Sphäre. Nono nimmt diese Kontraste in die - deutlich abgesetzten, "inneren" Klangbereiche - hinein (etwa 6'00" - 7'27") und kontrastiert auf diese Weise diese gegeneinanderstehenden Seiten unserer Lebenswelt besonders nachdrücklich.
 
Nono hat diese Komposition in mehreren Tourneen den Fabrikarbeitern selbst vorgeführt und die positiven Reaktionen der Arbeiter hervorgehoben. Und es hat nicht an Stimmen gefehlt, die Nono, dem Komponisten engagierter, Gesellschaftskritik artikulierender Musik einen Verlust an künstlerischer Substanz bescheinigen zu müssen glaubten.
 
Doch allein die schon erwähnten Bearbeitungsverfahren verweisen darauf, daß Nono sich niemals mit bloßer klanglicher "Abbildung" bestehender Verhältnisse - etwa im Sinne programmatischen oder simpel klangmalerischen Komponierens - beschieden hat. Seine Bearbeitung des realen Klangmaterials enthält die Kritik an den durch das Klangmaterial signalisierten Verhältnissen ebenso wie eine Kritik an banaler musikalischer Abmalerei. Die eindrücklichste und überzeugendste Dokumentation von Nonos besessener, ihn und die beteiligten Künstler bis an die Grenze des Möglichen fordernder, die Ergebnisse stets neu hinterfragender und korrigierender Arbeitsintensität ist der Bericht von Carla Henius.
 
Wie abwegig die Auffassung vom einseitig ideologisch fixierten und motivierten Komponisten Nono ist, zeigt die 1976 abgeschlossene, an die azione scenica Al gran sole carico d'amore anschließende Komposition für Klavier und Tonband...sofferte onde serene.... Nono selbst hat sich hierzu im Gespräch mit Enzo Restagno geäußert:
 
AL gran sole, erscheint mir heute mit seiner Komplexität seiner Themen wie eine ins gigantische gewachsene Sturzwelle, gleichsam ein Seebeben. Nach dieser Komplexität habe ich die Notwendigkeit gespürt, wieder von vorn anzufangen, mich neuen Studien zu stellen, indem ich gerade mit dem am meisten obligaten und bindenden Instrument begann, das überhaupt existiert, dem Klavier. Ich fühlte mich sehr von der Technik Maurizio Pollinis angezogen, nicht nur von seiner außerordentlichen Fähigkeit, das Instrument zu spielen, sondern auch wegen gewisser Nuancen seines Anschlags Es gelang, diese unbegreiflichen und ungewöhnlichen Details mit Hilfe des Mikrophons in eine absolut neue Dimension zu erweitern und auszubreiten. Es ist seltsam, daß bei diesem Umgang mit den Klängen Pollinis bei mir plötzlich verschiedene alte Erinnerungen auftauchten: der klassische Nachhall in der scuola di San Marco und der Lagune, wenn sie so unnachahmlich Licht und Farben zurückwirft. Um diese magischen Effekte zu erhalten, habe ich zuweilen den Anschlag abgeschnitten, der Klang manifestiert sich auf diese Weise wie eine Resonanz außerhalb der Zeit. Wir haben mit Maurizio Pollini drei Tage im Studio gearbeitet. Maurizio war selbst der erste in seinem Erstaunen angesichts der Ergebnisse, die dank der Aufnahme des großen Meisters Marino Zuccheri realisiert werden konnte. Im Gegensatz zu Como una ola habe ich hier den ganzen Tonraum des Klaviers verwendet. Mit den auf Tonband aufgenommenen Klängen gelang es einen Effekt der Ambivalenz zu erreichen, der die Aufführung dynamisiert. Manchmal wirken einige der genau auf dem Tonband komponierten Klänge des Klaviers wie ein Echo derselben live gespielten Tonhöhen, im wechselnden Widerhall zwischen Tonband und Klavier. In Wirklichkeit handelt es sich um kleinste Abweichungen, die sich beim Lauf des Tonbandes ergeben, oder um kleinste Intonationsabweichungen, die sonderbare mikrointervallische Beziehungen zwischen derselben Tonhöhe herstellt, die auf dem Tonband und auf dem Klavier in unterschiedlichen Räumen und Zeiten erklingt. Diese Verwirrung zwischen dem Klavier und sich selbst, wie es auf dem Tonband kompositorisch festgehalten ist, wird als zufällige Beobachtung hier zum beabsichtigten Phänomen, zu einer skrupulös verfolgten Ambiguität.
 
Man muß wohl den von Nono hier nur angedeuteten synästhetischen Erfahrungshintergrund beschwören, den Venedig in so einzigartiger Weise bietet, um die Subtilität und Vielschichtigkeit dieser Komposition aufnehmen, um ihr nachhören zu können. Diese Atmosphäre steht auch hinter Nonos Ausführungen zu...sofferte onde serene..., Ausführungen, die durch andere angereichert werden können:
 
In Venedig entdeckt man, was Licht, was Farbe heißt, was Klang und was Raum, was Tiefe, was Horizont, was Vertikale heißt. Oft ist das Wasser wie ein Spiegel, man sieht die Häuser im Wasser, aber es scheint, als wären sie unter dem Wasser, als wäre das wirklich eine eigene Welt, die mit der da 'oben' nichts zu tun hat. Das ist eine ganz geheimnisvolle Stadt. Der Tag, das Rot von Venedig, das Rot von Tizian - manchmal das oder das Blau von Guardi, manchmal aber auch dieser bewegliche Tiepolo-Himmel, dieser Himmel besonders des Barock, wie es ihn auch in Würzburg gibt.
 
In... sofferte onde serene..... verwendet Nono die ganze Tastatur des Klaviers - anders als in Como una ola de fuerza y luz, wo der Bereich "vom A des Basses bis zum mittleren Register" im Sinne einer "akustischen Erweiterung der Ausdrucksmöglichkeiten" in Verbindung mit einer "Überlagerung durch transformierte Klänge im mittleren Bereich" den Rahmen des Klavierklanges in dieser Komposition bestimmt.
 
Gleichwohl könnte man versucht sein, ...sofferte onde serene... wegen der Rolle des Klaviers im Zusammenspiel mit dem Tonband (wenn auch hier ohne Orchester und Stimme) neben Como una ola de fuerza y luz zu stellen. Doch diese Sichtweise erfaßt - angesichts des Weges, den Nono nach Al gran sole nahm - nicht die besondere Eigenart der Komposition. Neben den unglaublichen Klangeruptionen von Como una ola de fuerza y luz scheint es, als sei mit...sofferte onde serene... bereits die Entscheidung zugunsten der kompositorischen Landschaft gefallen, in der bestimmte Klangexponate Nonos unter dem Label "Kammermusik" figurieren. Es sind Kompositionen, in denen - vier Jahre später mit dem Streichquartett Fragmente-Stille, An Diotima paradigmatisch auskomponiert - der Klang wie unter einer kompositorischen Lupe erscheint, vielfältig, differenziert feingliedrig oft und durchsichtig, dabei aber auch bis ins Grell-Angreifende ausfahrend und ins Opak-Abgründige verschwimmend. Diese in die Zeit projizierten klanglichen "Mikrokulturen" kündigen sich mit...sofferte onde serene... schon an. So trägt diese Komposition auch bereits die Klangkavernen der Pausen im Keim in sich, jene Phasen, da die Zeit, in einem neuen, unbestimmter und freier schwingenden Wellenschlag gleichsam ausatmet, Pausen, die den Nachhall des Verklingens im inneren Ohr mit dem geistigen Einschwingvorgang der Erwartung neuen Klanges verbinden. - Und dies alles trotz des Klangausbruches im Mittelteil und trotzdem die Komposition von Zitatfetzen durchwirkt scheint, aus denen sich das immer wieder bruchstückhaft anklingende Finale aus Al gran sole carico d'amore herausfiltern läßt:
 
Kann... sofferte onde serene... als der erste Schritt einer Wegstrecke verstanden werden, auf der es - wie Nono selbst formulierte - darum ging, seine "sprachlichen, stilistischen und strukturellen Anliegen" deutlicher zu prononcieren, so hat er dieses Vorhaben mit Werken wie Con Luigi Dallapiccola (1979) - vor dem Streichquartett - und Das atmende Klarsein (1981), Io, frammento del Prometeo (1981) und Quando stanno morendo. Diario polacco n.2. (1982) - nach dem Streichquartett - fortgesetzt. Es sind Kompositionen, sekundiert und getragen von einer zurückhaltender und zugleich subtiler fungierenden Elektronik, einschließlich elektronisch modifizierten und modellierten Instrumentalklängen, Anblasgeräuschen samt Mikrophontechnik und einer Verinselung des Klanges, die frühere Ansätze hierzu - etwa in Al gran sole - in eine neue Dimension der Verdeutlichung und Differenzierung transformiert. Es sind Wegmarken eines Komponisten, der unterwegs nach Prometeo ist.
 
Das tritt auch beim Anhören von Quando stanno morendo. Diario polacco n.2. (1982) deutlich hervor. Es ist eine Komposition, deren besondere Motivierung Nono selbst umrissen hat: Im Oktober 1981 bat mich die Leitung des Festivals "Warschauer Herbst" für das folgende Jahr einen zweiten "Diario polacco" zu komponieren. Dann kam der 13. Dezember. Von den Freunden, die mich gebeten hatten, erhielt ich keine Nachricht mehr. Die Leitung wurde aufgelöst, das Festival konnte sich nicht halten. Umso mehr wollte ich diesen "Diario", dieses Tagebuch, schreiben. Ich widme es es den polnischen Freunden und Genossen, die im Exil, im Untergrund, im Gefängnis, in der Arbeit widerstehen - hoffen, auch wenn verzweifelt - glauben, auch wenn nicht gläubig. Der Hintergrund dieser Komposition, deren Texte Massimo Cacciari zusammenstellte, zeigt Nonos, Fronten übergreifendes Engagement gegen die Unterdrückung. Es sind Texte, auf deren endzeitlich-messianischen Tenor die Erläuterung Nonos und Cacciaris anspielt. Sie allein signalisieren die Nähe zu "Prometeo":
 
Solchermaßen hat die messianische Vision nichts von jenen landläufigen progressiven Glaubensvorstellungen, die versuchten, sich - je nachdem - ihr zu nähern oder von ihr loszumachen : sie rechnet in jeder Fiber ihres Wesens mit der Möglichkeit des Scheiterns, ist aber, gleich dem Propheten, unermüdlich im Fragen, unermüdlich im Warten. Sie ist nicht blinde Hoffnung, sie will keinen blinden Glauben, sie fordert: begreife die Zeit des Kommenden. Wer bist du? So klingt es in ihr beständig wider. Rußland, wer bist du? Moskau, wer bist du? Frauenname, wer bist du? Wer bist du selbst?
 
Auch hier haben wir jene Verinselung des Klanges, die unterschiedliche Verwendung und Einbeziehung des Textes, die Luzidität der - sehr oft - hohen, ätherischen Gesangsklänge, die, wie Klangringe ausgestoßen, kurzzeitig in der Luft schweben, verhalten, um dann zu vergehen. Auch hier haben wir aber die Passagen, wo das durchlaufende, tiefe Klangband der Instrumente die Vokalstimmen trägt. Was hier "fehlt" sind die unterschiedlichen, oft vehementen Kontraste, die dann bestimmte Teile des Prometeo durchfurchen, natürlich vor allem bedingt durch die ausgesprochen zurückgenommene Instrumentierung. Dies verleiht auch Diario polacco n.2. trotz der hinter der Komposition stehenden unverblümten politischen Stellungnahme, den Charakter des Kammermusikalischen.
 
Es ist dies ein Zug, der auch der Komposition Guai ai gelidi mostri (1983) eignet, ebenfalls ein Stück, dessen Konzeption wesentlich von der Zusammenarbeit mit Massimo Cacciari bestimmt ist, der die aus Fragmenten von Lukrez, Ovid, Ezra Pound, Nietzsche, Rosenzweig und Benn bestehende Textschicht gestaltet hat. Und auch hier findet sich die - für das Verständnis des nur ein Jahr später in der ersten Version beendeten Prometeo wichtige - Verbindung von reflexionsgelenkter Kritik und kompositorischer Differenzierung. Wirksam geworden ist indes auch hier - wie schon bei früheren Kompositionen, etwa Omaggio a Emilio Vedova und Intolleranza (um hier von der verwickelten Entstehungsgeschichte des Prometeo zu schweigen) - die enge Freundschaft mit Emilio Vedova. Vier Bilder aus der Serie Carnevali stehen - mit Cacciaris Text korrespondierend - als bildliche Anregung hinter dieser Komposition, deren erster Teil um ein Nietzsche-Zitat kreist: Stato si chiama il più freddo di tutti i gelidi mostri - Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer.
 
Der zweite, Lemuria benannte Textteil ist eine Katastrophenschilderung, basierend auf Texten Ovids und Benns, der dritte Wo ist das große Nichts der Tiere ? schließt an Rilkes achte Duineser Elegie und damit an Nonos Idee der erfüllten Stille an und der vierte Text, Entwicklungsfremdheit, beschwört den utopischen Zustand menschlicher Zeitenbundenheit.
 
Musikalisch ist die Komposition in drei Teile gegliedert, die an der unteren Hörgrenze beginnen, um schließlich in Teil zwei und drei in extremste Fortissimoausbrüche zu münden. Sowohl die auch für dieses Stück zentrale live-elektronische Realisierung samt der durch den Raum auf mannigfache Weise artikulierten "Verbreitung und Gerichtetheit des Klanges" als auch die Schärfung des Klanges, die bis an die Grenze des fürs Ohr Erträglichen reicht und im schärfsten Kontrast zu differenzierten und subtilen Klangbereichen steht, verweisen auf die unmittelbare Nähe zu Prometeo.
 
Darüber hinaus findet sich in Guai ai gelidi mostri aber auch das Moment, das Nonos Kompositionen seit Il canto sospeso durchzieht: Einem über weite Strecken in den Klang hineingenommen, in seiner äußeren Semantik nicht verständlichen Text stehen nur punktuelle Deutlichkeits-Inseln gegenüber - hervortretend durch Bedeutung zentrierende Worte: "Tyrannos", "mostri", "death", "Gewalt" und "Mensch".
 
Es ist dieses Moment der gestuften Textverständlichkeit, das dann im Prometeo mit dem Hölderlinschen Schicksalslied in der Zweiten Insel die dramatische Dimension und die Perspektive der ganzen Komposition steuert. Eine Partiturnotiz zur Ersten Insel bestimmt - dem Verfahren im Streichquartett vergleichbar:
 
"Der beigefügte Text darf nie gelesen werden! Aber gehört (und er soll gefühlt "werden") in den 4 Orchestergruppen, den drei Solostreichern".
 
In der Zweiten Insel aber wird dieser Bann über dem Text gebrochen. Der Hölderintext - "Doch uns ist gegeben, auf keiner Stätte zu ruhn..." - tritt sich zunehmend deutlicher aus dem Meer des Klanges hervor und wird damit - formal wie inhaltlich - in seiner Funktion als Orientierung sichernder Wendepunkt des Stückes deutlich. Nonos Prometeo ist aus der engen Zusammenarbeit mit Massimo Cacciari entstanden. So wie Prometeo in der Verknüpfung der verschiedensten Texte von Hesiod und Aischylos über Hölderlin und Nietzsche bis Walter Benjamin ein Dokument des weitgespannten künstlerischen und historischen Horizonts Nonos ist, so verbinden sich in dem Stück die drei Zeitmodi Vergangenheit Gegenwart und Zukunft zu einer übergeifenden Perspektive, die zeigt, in welchem Maße auch - und gerade hier - noch Nonos Denken auf Zukünftiges zielt.
 
Luigi Nono ist seinen Weg - diese von Kompositionen gesäumte Spurensuche nach dem erst Aufzuspürenden - auch nach "Prometeo" weitergegangen. Hiervon zeugen nicht zuletzt die Risonanze erranti (1986), eine Komposition, die von Texten Ingeborg Bachmanns und Herman Melvilles ausgehen. Es ist der Schritt von der Verinselung zur Zersplitterung. Die Fragmentierung ist weiter vorangetrieben. Es ist eine Komposition, die mit zurückgenommenem Instrumentarium arbeitet, die aus der Grenzsituation der Texte, die Kundgabe und Struktur zum Einstand bringen, das Formmotiv gewinnt. Diese Texte, die noch die letzten Reste vor dem endgültigen Verdampfen des Ausdrucks protokollieren, hat Nono als Herausforderung zu einer Komposition genommen, von der Wolfgang Rihm nach der Kölner Uraufführung sagte, "er liebe dieses Werk, in dem die Trümmer nur so herumliegen".
 
Walter Levin hat anläßlich eines workshop im Zusammenhang mit der Bonner Uraufführung des Streichquartetts Fragmente - Stille, An Diotima im Juni 1980 das ständige "Unterwegs" Nonos zum Ausdruck gebracht, als er sagte, die Komposition dieses Quartetts habe 25 Jahre gedauert. Nono kommentierte diesen Satz mit dem Hinweis , das LaSalle Quartett habe ihn bereits in den fünfziger Jahren um ein Quaratett für Darmstadt gebeten. In der übersteigert anmutenden Aussage Walter Levins steckt eine doppelte Wahrheit. Einmal, weil in das Streichquartett natürlich Erfahrungen eingegangen sind, die - als auszuschließende wie als zu integrierende - die Konzeption und Verwirklichung dieses Quartetts mitbestimmt haben. Zum anderen aber, weil die eigentliche kompositorische Arbeit am Quartett im intensiven Austausch mit dem LaSalle Quartett verlief und sich über nicht weniger als zwei Jahre erstreckte:
 
Wir haben wenigstens zwei Jahre lang zusammen gearbeitet. Diese Arbeit mit Levin und den anderen Mitgliedern des Streichquartetts ist für mich bestimmend geworden, eine Arbeit, die vom Bereich des Technischen sich kontinuierlich in den des Geistigen und Menschlichen verlagerte. Wieviel neues Wissen, und wieviele Wunder, der hebräischen Kultur! Es war ein ununterbrochene Aufeinanderfolge von Problemen, Versuchen, Vorschlägen und Gegenvorschlägen über die Qualität des Klanges, über Bogentechnik und die Erweiterung der herkömmlichen Möglichkeiten der Instrumente. Man sieht diese Arbeitsmethode fortgesetzt in meiner Zusammenarbeit mit Ljubimow, Abbado, Borovskij, und, zu seiner Zeit, mit den Sängern des Elektronischen Studios.
 
Die Arbeit mit dem LaSalle Quartett siegelte endgültig die Qualität in Nonos kompositorischer Arbeit als "Wege", als ein kompositorisches "Unterwegs" - selbst dort, wo wir an "Werke" im emphatischen Sinne - wie im Falle von Prometeo - denken. Dieser unendliche künstlerische Weg war zweifellos früh schon angelegt gewesen, gewann aber an Profil vor allem seitdem Nono mit den Mitteln der Live-Elektronik arbeitete. Nun indes bewies er sich am Streichquartett als einem kompositorischen Genre, das zu "den am stärksten durch Tradition geprägten und auch schwierigsten gehört, die heutzutage denkbar ist". Es ist eine Komposition, die mit ihren in den Notentext eingelassenen Textinkrustationen aus Hölderlintexten des Komponisten außerordentliche Affinität zu dem Dichter bezeugt, dessen "Tübinger Turm" er gerne hätte sein mögen, "um Hölderlin zuzuhören" ; die in ihrer Schichtenstruktur mit der Frankfurter Hölderlinausgabe korrespondiert; die vor allem aber, wegen ihres Fragmentgefüges, Nonos vier Jahre darauf im "Prometeo" weitergeführte Komposition mit Klanginseln unterschiedlicher Ausdehnung paradigmatisch vorwegnimmt. Nonos Streichquartett steht damit auch für die gewonnene Überzeugung, daß es "keinen Unterschied zwischen dem 'Innen' und dem 'Außen' gibt,eine Auffassung, die Nono durch Schelling und Novalis bestätigt sieht und hinter der zudem die Ablehnung des "Denkens ins Dichotomien" steht. Mit seinen, weithin an der Grenze des Hörbaren den Streichinstrumenten unermüdlich probierend und lauschend abgelisteten, subtilen Mikroorganismen des Klanges, ist es zugleich Dokument forschenden Komponierens wie Herausforderung zu differenzierendem, bewußten Hören: ein Einspruch gegen die allgegenwärtige Klangverschmutzung. Sein Netz aus Klang- und Pausen-Inseln, aus verinnerlichtem und zum Schweigen erwachten Klang, mutet an wie der akustisch gebrochene Spiegel des von Nono beschrieben Wanderns in Venedig, ein unendliches Unterwegs, in dem das Wissen um Nietzsches und Hölderlins Wanderer mitschwang:
 
.....ein dauerndes Labyrinth, d.h. ein Wanderweg, der dauernd weiterwandert, noch heute, es ist ein Weg des Wanderns - mit Augen, mit Füßen - und auch mit den Ohren.....
 
Nono hat seinen Weg mit den darauffolgenden Stücken - man denke nur an Kompositionen wie Omaggio à György Kurtag, Prometeo und La lontananza nostalgica-futura - beharrlich suchend fortgesetzt. Eine seiner letzten Kompositionen trägt den Titel No hay caminos, hay que caminar. Er korrespondiert mit dem in die Mauern eines Kloster in Toledo eingemeißelten Satz: Caminantes no hay caminos hay que caminar.
 
Es ist der Leitspruch, dem er folgte und den er, der betonte "Philosophische Kompositionen" zu schreiben, weiterzugeben bestrebt war.
 
Im Gespräch hat Luigi Nono der Vermutung, Antonio Machado habe diesen Leitspruch dem XXIX. seiner Proverbios y Cantares, zugrundegelegt, zugestimmt:
 
Caminante, son tus huellas Wandrer, deine Spuren
el camino, y nada más; sind der Weg, sonst nichts;
caminante, no hay camino, Wandrer, es gibt keinen Weg,
se hace camino al andar. Weg entsteht im Gehen.
Al andar se hace camino, Im Gehen entsteht der Weg,
y a volver la vista atrás und schaust du zurück,
se ve la senda que nunca siehst du den Pfad,
se ha de volver a pisar. den du nie mehr betreten kannst.
Caminante, no hay camino, Wandrer, es gibt keinen Weg,
sino estelas en la mar. nur eine Kielspur im Meer.
 
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